Urspruch und der gregorianische Choral:

 

"Die abendländische Musik hat einen Jahrtausende alten Kronjuwel. Täglich enthüllt sie ihn, wenn es ihrem edelsten Zweck, der Anbetung des Heiligen, gilt. Sie zeigt ihn, köstlich gefasst, an ihren höchsten Festen, in seinem strahlendsten Glanze. Und dennoch wissen nur wenige von ihm. Achtlos geht der moderne Mensch, ja der moderne musikalische Künstler an ihm vorüber." (1)

 

 

Urspruch beginnt seine musikalische Karriere als glänzender Klaviervirtuose, wendet sich aber schon bald der Komposition als Hauptaufgabe zu. Seine Leidenschaft für den Gregorianischen Choral entwickelte sich zunehmend in den letzten Jahren seines Lebens, wobei diese Entwicklung von innerer Folgerichtigkeit war: „Man kann die moderne Musik nicht verstehen, wenn man Bach nicht versteht…. Bach aber wird man nicht verstehen, wenn man Palestrina nicht kennt, und Palestrina versteht man nicht ohne den Gregorianischen Choral.“ Dieser Satz von ihm wird in einem Nachruf zitiert (Gregoriusblatt 1907 Nr. 3, S. 26). Er macht deutlich, dass Urspruch sein eigenes kompositorisches Schaffen ganz in der Weiterführung dieser Tradition gesehen hat.

In den 90iger Jahren entstand ein lebhafter Kontakt zu den Benediktinerklöstern Maria Laach und Beuron und darüber hinaus zu vielen namhaften Persönlichkeiten, die sich in der Erneuerungsbewegung des Gregorianischen Chorals engagierten. Urspruchs Vision war die Errichtung einer Choralschule in einem der deutschen Benediktinerkloster nach dem Vorbild von Solesmes.

1901 erscheint sein viel beachteter Aufsatz über „den gregorianischen Choral und die Choralfrage“, in dem er leidenschaftlich Partei ergreift für die klassische benediktinische Tradition, die damals in scharfem Gegensatz stand zu der von der römischen Kurie vorgeschriebenen „volksnahen“ Fassung der sog. „Medicaea“. Es folgten weitere Begegnungen, u.a. anlässlich eines grossen kirchenmusikalischen Kongresses in Strassburg 1905. 1906 reiste Urspruch mit seiner Familie nach Rom und konnte ein langes Gespräch mit Papst Pius X. über sein Anliegen führen. Sein früher Tod verhinderte eine Weiterführung seiner Pläne.

Unvollendet blieb auch der Plan, einen vierstimmigen Satz mit Orgelbegleitung für die Choralmesse „Lux et Origo“ zu schaffen. Nur das „Kyrie“ wurde fertig und im Archiv von Maria Laach wieder entdeckt. Am 09. Februar 2000 wurde es in einem Konzert des Hessischen Rundfunks in Frankfurt uraufgeführt. Die polyphone Ausgestaltung gregorianischer Gesänge war ein Anliegen, das Urspruch schon längere Zeit bewegte. Sein Chorwerk „Ave Maris Stella“, op. 24, ist ein Hymnus, der weitgehend auf gregorianischen Melodien aufbaut.

Der innerkirchliche Streit um den Gregorianischen Choral, in dem .Urspruch sich so lebhaft engagierte, hat eine längere Vorgeschichte: Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gab es Bestrebungen der römischen Kirche, eine verbindliche Form für den Choral in der Liturgie festzulegen. Rom entschied sich damals für die sog. „Medicaea“ einer vereinfachten, in der Barockzeit entstandenen Form, die von vielen Fachleuten später als ungeeignet beurteilt wurde.

Im 19 Jahrhundert beginnt in der katholischen Kirchenmusik die Reformbewegung des sog. „Cäcilianismus“, die sich abwendet von dem aufwendigen, z.T. üppig konzertanten zeitgenössischen Kirchenmusikstil und sich die strengeren Formen des 16. Jahrhunderts zum Vorbild nimmt. Palestrina ist der grosse, verehrte Meister, später auch für Anton Urspruch. 1825 erscheint die viel beachtete Streitschrift von A.Fr.J. Thibaut mit dem Titel „Die Reinheit der Tonkunst“. Thibaut war Juraprofessor in Heidelberg und der Lehrer von Carl Theodor Urspruch, dem Vater Antons. Man kann vermuten, dass Einflüsse Thibauts bei dem jungen Komponisten nachwirkten.

In den 60iger Jahren entstand in Regensburg ein Zentrum dieser kirchenmusikalischen Reformbewegeng; 1869 wurde der Allgemeine Cäcilienverein gegründet, der der Bewegung ihen Namen gab...1868 war im Pustet-Verlag die „Medicaea“ neu herausgegeben worden. Sie sollte für den Choral in der katholischen Liturgie allgemein verbindlich sein. Gegen diese Ausgabe erhob sich ein z.T. heftiger Protest. vor allem aus den benediktinischen Klöstern. Urspruchs Aufsatz nimmt Bezug auf diesen Streit und ist ein engagiertes Plädoyer für die Auffassung der Benediktiner. 1903 wurde die „Medicaea“ dann durch eine neue, im Vatikan herausgegebene Fassung, die sog. „Vaticana“, abgelöst.

Urspruchs Engagement für den Gregorianischen Choral hatte nicht nur künstlerisch-ästhetische Gründe; es ist zugleich Ausdruck der tiefen Frömmigkeit eines Mannes, der, als gläubiger Protestant, eine besondere Sensibilität für die spirituelle Ausstrahlung des Chorals hatte, und der sich von dieser katholischen Liturgie sehr angesprochen fühlte Ein Zeugnis dafür sind seine Briefe aus den letzten Lebensjahren an P. Gregor Böckeler, die im Archiv in Maria Laach aufbewahrt sind. P. Böckeler leitete in Maria Laach den Gregorianischen Gesang und war für die gesangliche Ausbildung der Mönche verantwortlich.

In einem Brief an ihn vom 14. April 1904 findet sich bei Urspruch, der damals ein Herzleiden auskurieren musste, das folgende Zitat: „ Können Sie mit mir fühlen, wie traurig es für mich war, dass ich nach Rom für meine Betheiligung am „Centenario di San Gregorio Magno“ abschrieb? ….. Es hätte mich aber allzu sehr erregt. Ich hätte mich an den wissenschaftlichen Erörterungen betheiligen müssen – vor allem an den „künstlerischen“, ob ich gleich fürchte, dass diese allerwichtigste Frage kaum berührt wird, dass man in jedem Fall den Franzosen (welche diese Frage wohl begreifen und sehr gewissenhaft auf ihre Weise erörtern) von Seiten der Deutschen ganz gewonnenes Spiel gelassen hätte. Und hier liegt eine Gefahr: diejenige, dass der Choral eine gewisse rithmische Eleganz erhält, die zu dem einzig für ihn passenden „Christusgewand der Armuth“ gar nicht gut steht. Auch im Äußern ist der Choral wahrhaft christlich, arm, mit der ganzen Schönheit der Armuth geschmückt, von jener Arm-Seligkeit, der das Himmelreich offen steht.“

Die Entwicklung vom glänzenden jungen Klaviervirtuosen zu einem Komponisten, der sich in seinen letzten Lebensjahren immer stärker und innerlicher einer religiös inspirierten musikalischen Sprache zuwandte, erinnert in einigem an den Weg, den sein grosser Lehrer Franz Liszt gegangen ist.

 

Nochmal zwei Zitate:

"Könnten wir uns nicht einmal in Maria Laach im Laufe dieses Sommers treffen? Ich habe so vieles im Laufe vieler Jahre von Erfahrungen aufgespeichert, welches, wie manche mir sagen, gerade bei Ihnen das sympathischste Echo, man meint sogar das einzig verständnisvolle, fände. Es betrifft dies eine sehr brennende Frage: die Choralbegleitung. Möchten Sie mir, der ich hier ganz auf Palestrinaschem Standpunkt stehe, eine Gelegenheit verschaffen, mich mit Ihnen darüber auszusprechen." (2)

.... Wenn Urspruch auch von Zeit zu Zeit den Gedanken wieder aufgriff, "Muster gregorianischerKunst von einem kleinen Musikchore geschulter Sänger öffentlich vorführen zu lassen", so verwarf er ihn doch immer wieder. "Je mehr ich die Sache bedenke, je mehr empfinde ich Widerwillen, diese Kunst vor einer sensationssüchtigen Menge, wie sie doch eben ein modernes Publikum darstellt, zu profanieren. Schon der Gedanke, diese herrlichen Gesängein anderer Umgebung als Kirche und Altar, also in einem Konzertsaale oder Salon vorzuführen, ist mir höchst unsympathisch. Wohl weiss ich, dass es noch möglich ist, aus diesen Kunstedelsteinen ein noch edleres Feuer herauszuschlagen, als bis jetzt denselben entlockt wurde. Aber meinem tiefsten Wunsche gemäss sollte es nur an einem einzigen Ort ewig wirksam, fleckenlos rein und dort alleinmit wahrhaft läuternder Glut brennen. (3)

(1) Einleitungsatz in der Broschüre "Der Gregorianische Choral und die Choralfrage." Stuttgart/Wien, Roth´sche Verlagshandlung 1901.
(2) Brief vom 18.03.1906 an Msgr.Nekes, Zitat aus dem Nachruf im Gregorius-Blatt von P,G,Böckeler, 1907, Heft 3 S.27.
(3) Zitat aus dem Nachruf in der Gregorianischen Rundschau von G.Böckeler
im Feburar/März 1907.